Das tibetische Orakel by Eliot Pattison

Das tibetische Orakel by Eliot Pattison

Autor:Eliot Pattison
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
ISBN: 9783746621364
Herausgeber: Aufbau Taschenbuch
veröffentlicht: 2005-02-22T23:00:00+00:00


III. Stein

Kapitel 12

Es gibt Momente, sagte Lokesh manchmal zu Shan, während derer das Rad des Lebens sich mit doppelter Geschwindigkeit dreht und die vorgezeichneten Pfade mehrerer Menschen in einem Punkt zusammenführt, der für jeden der Betroffenen auf eigene Weise bedeutsam ist - und als Resultat scheint das Leben sich dann explosionsartig in ein Durcheinander aus Handlungen und Sinneseindrücken aufzulösen. Lokesh nannte diese Momente »Karmastürme«.

Shan befand sich plötzlich im Zentrum eines solchen Sturms. Oberst Lin brüllte wütend Befehle. Die Arbeiter an beiden Enden des Lagers gerieten in Unruhe; manche glaubten an einen Unfall, andere vermuteten Saboteure auf dem Gelände. Shan rannte um die Ecke des Anhängers und sah sich hektisch nach Winslow um. Ein Horn erklang und übertönte die Pfeife des Weißhemds; es war laut wie das Signal einer Lokomotive. Alle hielten mit ihrer Arbeit inne und fingen an, sich unten am Hang zu versammeln. Der große Sattelschlepper rollte los und verlor dabei die restlichen Rohre von der Ladefläche. Unter den ganzen Lärm mischte sich die geheimnisvolle Trommel - sie schlug schneller als je zuvor. Und oben bei den Holzfällern krachte ein riesiger Baum zu Boden.

Shan lief im Zickzack zwischen den Anhängern durch und fragte sich, ob er es wagen sollte, zum Dorf zu fliehen. Nein, es gab unterwegs keine Deckung. Man würde ihn leicht ausmachen und mit einem der Wagen einholen können.

Einige Arbeiter warnten lautstark vor dem offensichtlich führerlosen Lastwagen und wichen den rollenden Rohrstücken aus, während andere versuchten, die verlorene Fracht unter Kontrolle zu bekommen. Shan stolperte und fiel, doch die Männer eilten an ihm vorbei dem Lastwagen hinterher. Sie schienen zu glauben, daß man wegen des Fahrzeugs Alarm ausgelöst hatte.

Genauso abrupt wie es erklungen war, verstummte das Horn auch wieder. Das Signal der Trillerpfeife geriet ebenfalls ins Stocken und erstarb. Ein Mann rief etwas in seltsam ehrerbietigem Tonfall auf tibetisch, dann ein anderer auf Mandarin, und die meisten der Arbeiter blieben stehen und deuteten zum Hang. Dort auf dem östlichen Grat, wo die Straße aus dem Tal hinausführte, standen mitten auf einem von der Sonne beschienenen Fleck zwei Gestalten und blickten zum Lager hinab. Ein einzelner Mönch und daneben ein riesiger Yak. Die Tibeter tuschelten aufgeregt. Shan hörte hastig geflüsterte Mantras. Auch viele der Chinesen starrten reglos zum Bergkamm empor, einige zweifellos verwirrt, manche aber gewiß mit Ehrfurcht, denn in der chinesischen Tradition gab es kaum ein höher geachtetes Bild als das des alten Taoistenmönchs Laotse, der neben seinem Ochsen ging.

Niemand sprach. Alle schienen auf diesen unerwarteten, rätselhaften Anblick konzentriert zu sein. Nur das ferne Trommeln dauerte unverändert an und wirkte mehr denn je wie der Herzschlag der Gottheit dieses Tals.

Shan zögerte zu lange. Auf einmal packte ihn jemand von hinten und zerrte ihn grob in die schmale Gasse zwischen zwei der Anhänger.

»Hier!« befahl eine Frau. Sie setzte ihm etwas auf den Kopf und streifte ihm eine grüne Jacke über. Shan starrte die junge Tibeterin wie betäubt an. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor. Dann tauchte Winslow neben ihm auf, und mit dem gleichen wütenden Blick warf die Frau auch dem Amerikaner eine Jacke und einen Schutzhelm zu.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.